Am Beispiel des Hummers

Am Beispiel des Hummers
Wallace – Panteleev – Finzi

Samuel Finzi glänzt in zwei Rollen, die zu einem skandalösen Hybrid des Amüsierbetriebs verschmelzen: Der Entertainer, der zuerst mit Hingabe und Befriedigung von den Perversitäten eines Hummer-Festivals berichtet, genießt die Aufmerksamkeit auch als mutmaßlicher Vergewaltiger – er antwortet auf (unhörbare) Fragen, die ein Reporter auf der Suche nach dem nächsten Monster gestellt haben könnte. Die beiden Gestalten haben gemeinsam, dass sie ihre Analysen und Beobachtungen suggestiv und geschliffen vorbringen, als Entertainer ihrer eigenen grausamen Wahrheiten. Dem einen gibt man allzu gerne recht und sonnt sich in seiner Rhetorik, den andern hasst man für seine perfide Rechtfertigungsstrategie. Regisseur Ivan Panteleev kreiert mit Finzi einen Soloabend über die Macht der Worte und die gefährliche Kraft der Überzeugung. Ein Stück über die Fragen, wozu Menschen fähig sind und was sie antreibt.

Was hat sich die Redaktion des US-amerikanischen Gourmet-Magazins wohl dabei gedacht, den Schriftsteller David Foster Wallace mit einem Essay zum „Maine Lobster Festival“ zu beauftragen? Dieses sognannte Mega-Event fand da zum bereits 56. Male in der kanadischen Küstenstadt Maine statt, hatte als Motto „Leuchtturm, Lobster, gute Laune“ ausgegeben und zählte am Ende mal wieder 100.000 Besucher. Wie findet das einer der geistreichsten Autoren der Gegenwart? Er bekennt frei, „der Falsche“ zu sein, um die offenkundigen Erwartungen zu erfüllen. Trotzdem schreibt Wallace, ein früherer Tennisprofi, der mit seinem Roman Unendlicher Spaß seine Generation faszinierte, aus diesem scheinbar nichtigen Anlass gegen seinen Ekel an – Ekel gegenüber gegen Touristenorte und -Spektakel im Allgemeinen, gegen Hummer-Gourmet-Traditionen im Besonderen. Zitat: „Als Tourist mag man ökonomisch bedeutsam sein, doch aus existenzieller Sicht verwandelt man sich in eine widerwärtige Schmeißfliege auf einem Kadaver.“

Der brillante Essay wurde posthum dem literarischen Werk von Wallace zugeordnet, nachdem dieser sich mit gerade einmal 46 Jahren wegen Depressionen das Leben genommen hat. Zu diesem Werk zählt seit seiner Erstveröffentlichung 1999 auch „Kurze Interviews mit fiesen Männern“. 23 männliche Archetypen, denen man weder im Dunklen noch im Hellen begegnen will, geben unterschiedlich lange Antworten auf (vom Autor) geschwärzte Fragen. Ein Meisterwerk schwarzen Humors, das die fiktiven Straftäter bei ihrer Selbstverliebtheit packt – und ihre Zuschauer bei ihrem Sozial-Voyerismus.

In Samuel Finzis vielschichtiger Darstellung trifft der brillante Gourmet-Festival-Kritiker auf den gewieften Selbstverteidiger, der sein Publikum mit zynischem Vergnügen über seine Taten und Opfer im Unklaren lässt: „Ihr wisst einen Scheiß.“

Am Beispiel des Hummers

Zwei Texte von David Foster Wallace

Eine Produktion von Samuel Finzi und Ivan Panteleev nach der Fassung für die Volksbühne Berlin


mit Samuel Finzi


Regie Ivan Panteleev


Deutsch von Marcus Ingendaay


Aufführungsdauer ca. 2 Stunden

Aufführungsrechte Rowohlt Theater Hamburg


Aufführungsfotos © Thomas Aurin


Premiere 4.1.2010 an der Volksbühne Berlin (Prater)


Gastspiele beim NO99 Põhuteater Tallin (28.6.2011), Fundamental Monodrama Festival Luxemburg (Banannefabrik, 12.6.2021) u.a.


Deutsche Originalausgaben: 

David Foster Wallace: Am Beispiel des Hummers. Übersetzt von Marcus Ingendaay. Arche Verlag. Zürich/Hamburg 2009

David Foster Wallace: Kurze Interviews mit fiesen Männern. Storys. Übersetzt von Marcus Ingendaay. Kiepenheuer & Witsch. Köln 2002


Weitere Mitwirkende an der Originalproduktion an der Volksbühne Berlin (2010/11):

Bühne Jochen Hochfeld

Kostüme Ulrike Köhler

Musik Sir Henry

Licht Johannes Zotz

Dramaturgie Ralf Fiedler


ORIGINAL-TRAILER DER VOLKSBÜHNE AM ROSA-LUXEMBURG-PLATZ:

Textprobe

Aus dem Essay "Am Beispiel des Hummers" von Davod Foster Wallace

Anmerkung: Als aufgetragenes Thema seines Essays für die Zeitschrift Gourmet bezeichnet Wallace „die 56. Wiederkehr des Maine Lobster Festival, das unter dem Motto ,Leuchtturm, Lobster, gute Laune‘ wieder zahlreiche  Besucher angelockt hat.“


Hummer kann gebacken, gebraten, gedünstet, gegrillt, sautiert oder pfannengerührt auf den Tisch kommen. Notfalls geht auch die Mikrowelle. Die verbreitete Garmethode ist jedoch das Kochen, vor allem Freizeitköche schwören darauf, denn das geht am leichtesten. Man braucht nur einen großen Topf (mit Deckel). Sobald das Wasser kocht, werden die Hummer nacheinander in den Topf gegeben. Deckel schließen und einmal kräftig aufkochen, danach bei geringer Hitze simmern lassen. Die Rotfärbung des Hummers bewirkt ein spezielles Protein, das beim Kochen die roten Farbpigmente im Panzer freisetzt. Will man wissen, ob der Hummer gar ist, zieht man einfach an den Antennen. Gehen die Antennen leicht ab, ist der Hummer fertig.  

Ein Detail, das offenbar so selbstverständlich ist, dass es in den meisten Kochbüchern nicht einmal erwähnt wird: Der Hummer kommt lebend in den Topf.  

Genau das macht den modernen Reiz des Hummers als Lebensmittel aus: Etwas Frischeres gibt es 

nicht. Sie kommen lebend aus den Fallen und lebend in ihre Bassins und Transportkisten, wo sie verbleiben, bis sie im Kochtopf landen. Bei ausreichender Wasser- und Sauerstoffversorgung und mit zugebundenen Scheren, damit sie sich durch den Stress der Gefangenschaft nicht gegenseitig in Stücke reißen, sind sie lange haltbar. 

Die meisten von uns haben schon Supermärkte und Restaurants mit diesen Aquarien gesehen, aus denen man sich seine nächste Mahlzeit aussuchen darf, während die Hummer auf der anderen  Seite der Scheibe nur zusehen können, auf wen der Finger zeigt.  


Pressestimmen

Samuel Finzi verschiebt seine Mimik vom Betroffenheits- ins Entertainment-Fach. Immer wieder wechselt er vom ernsthaften Ton mit pathetischem Unterstrich ins plätschernden Plaudern des Amüsierbetriebes. Er tänzelt wie Frank Sinatra, wackelt mit dem Hintern, grinst, parodiert, schwitzt und hüpft den Steg entlang. 

Dirk Pilz, nachtkritik


Für alles hat er eine Geste. Ist von den Fühlern des Hummers die Rede, spitzt er die Finger. Geht es um Säugetiere, wölbt er die Hände vor der Brust. Die Augen werden gerollt, ist von den verschreckten Hummern in ihren Bassins die Rede. Für alles gibt es eine Verzierung, nichts bleibt ohne Borte, Quaste, Krönchen. Das Publikum schleckte die Nuancenfülle mit Gier auf, der Schlussbeifall war ekstatisch.

Stephan Speicher, Süddeutsche Zeitung


Guter Regiekniff, den kommerziellen Eventcharakter des Fressfestivals in Finzis – hoch unterhaltsamem! – Gewitzel einzufangen – die Überlegungen auf der Textebene, wenn man sie ernsthaft nachzuvollziehen bereit ist, sind schließlich alles andere als witzig.

Jan Oberländer, Der Tagesspiegel


Wallace arbeitet sich an jener schreckensreichen Dialektik ab, der sich jede Philosophie im Zeitalter der Extreme stellen muss: dass selbst furchtbarste Ereignisse noch, wie es bei Wallace heißt, "positive Aspekte" besitzen, ja diese positiven Aspekte gleichsam aus sich heraustreiben, weil im Nachgang alles, wirklich alles Geschehene mit Sinn belegt werden muss – nichts lässt sich im bloßen Status des Schreckens einhegen, alles wird, wie auch immer, in Verstehenszusammenhänge eingeordnet.

Dirk Pilz, nachtkritik


Keiner kann nachvollziehen, was dieses Opfer einer Vergewaltigung erlitten hat. Der Redner entzieht mit diesem Argument den Zuhörern das Recht zum Einspruch und presst ihnen ein schlechtes Gewissen ab. Wie der Überlebende eines Verbrechens um diese Überlebenserfahrung reicher sei, ist der Punkt, den er hartnäckig nutzt, um wieder und wieder auf das Verbrechen zurückzukommen. Es ist nicht mehr zu unterscheiden, ob er sich an der Darstellung der Gewalt berauscht oder sie durchleidet.

Katrin Bettina Müller, die tageszeitung

Kurzbiografien

Samuel Finzi wurde 1966 im bulgarischen Plovdiv als Sohn einer jüdisch-bulgarischen Familie geboren. Er studierte Schauspiel an der staatlichen Theater- und Filmakademie Sofia und spielt seit Anfang der 1990er Jahre in Deutschland. Es entwickelte sich eine enge Zusammenarbeit mit dem Regisseur Dimiter Gotscheff. Von 2003 bis 2005 war er an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz engagiert. Seit 2006 ist er am Deutschen Theater, wo er weiter mit Dimiter Gotscheff arbeitete. Außerdem spielte er in Inszenierungen von Benno Besson, Jürgen Gosch, Werner Schröter, Robert Wilson, Frank Castorf, Johan Simons, Michael Thalheimer und Ivan Panteleev. 2011 erhielt er den Theaterpreis der Stiftung Preußische Seehandlung. Für ihre Rollen in „Warten auf Godot“ (Regie Ivan Panteleev, eingeladen zum Theatertreffen 2015) wurden Samuel Finzi und Wolfram Koch mit dem Gertrud-Eysoldt-Ring 2015 ausgezeichnet, dazu wurde Finzi zum Schauspieler des Jahres 2015 gewählt. Zu seinen aktuellen Arbeiten zählen „Macht und Widerstand“ sowie „Kommt ein Pferd in die Bar“ (Regie Dušan David Pařízek), zu sehen am Burgtheater Wien Deutschen Theater in Berlin und am Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Einem breiten Publikum bekannt ist Samuel Finzi aus zahlreichen Fernseh- und Kinofilmen, etwa den Komödien „Klassentreffen 1.0“ und „Die Hochzeit“.


Ivan Panteleev wurde 1966 in Sofia geboren, wo er auch an der Staatlichen Akademie für Theater und Film Theaterregie studierte. In den 1990er Jahren zahlreiche Inszenierungen nach Texten von u. a. Tschechow, Joyce, Pirandello, Goethe, Heiner Müller und Irvine Welsh in Sofia, Avignon, Riga und Stockholm. 1998/1999 war er Stipendiat der Akademie Schloss Solitude in Stuttgart. Im deutschsprachigen Raum hat Panteleev u. a. am Staatstheater Stuttgart, am Schauspielhaus Zürich, an der Volksbühne Berlin, am Deutschen Theater Berlin und am Residenztheater München inszeniert. 2008 realisierte Panteleev den Dokumentarfilm „Homo ludens“ über Dimiter Gotscheff, mit dem ihn eine enge Zusammenarbeit verband. 2015 wurde seine Inszenierung von „Warten auf Godot“ am Deutschen Theater zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Seine Inszenierung „Neodačnici“ nach „Sommergäste“ von Maxim Gorki am Nationaltheater Sofia wurde 2018 mit dem bulgarischen Theaterpreis Askeer als „Beste Regiearbeit“ und „Beste Aufführung“ ausgezeichnet.

 

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