Rechnitz (Der Würgeengel)

Rechnitz (Der Würgeengel)
Jelinek - Koppelmann - Menke

In „Rechnitz (Der Würgeengel)“ haben die Boten das Wort. Sie berichten - mal im Rückblick wie Zeugen, mal live wie bei einer Mauerschau – von einem Massaker und seinen Folgen, geschehen in den letzten Kriegstagen 1945 an der österreichisch-ungarischen Grenze. Die Gräfin Margit von Batthyany hatte auf Schloss Rechnitz die lokalen SS- und Gestapo-Männer zu einem so genannten Gefolgschaftsfest eingeladen. Zeitgleich wurde eine Massenerschiessung beim nahe gelegenen „Kreuzstadel“ vorbereitet. 180 jüdische Zwangsarbeiter, die für die Deportation ins Landesinnere zu entkräftet waren, wurden schliesslich von einer Gruppe Festgäste erschossen. Schon wenige Tage später brannte Schloss Rechnitz und die Gräfin floh vor der Roten Armee mit zwei Begleitern, dem SS-Ortsgruppenführer Podezin und dem Schlossverwalter Oldenburg. Ihr Ziel: die Schweiz, namentlich die Villa Favorita am Luganer See, wo Margits Bruder Heini Thyssen lebte, mit den Nazis Geschäfte machte und Kunst sammelte. Die Boten bleiben zurück und mit ihrem Wissen allein, in Umkehrung von Bunuels Film „Der Würgeengel“, wo es die (Dienst-)Boten sind, die die Herrschaft im Stich lassen. Aber berichten die Boten auch die Wahrheit? Oder ist ihr vielstimmiges Sprechen ein gigantisches Um-den-Brei-Herumreden, also Schweigen?

Elfriede Jelinek lässt in ihrem Stück viele Quellen ineinander fliessen. Es sprechen Zeitzeugen, wie sie in den Rechnitz-Prozessen der Nachkriegsjahre ausgesagt haben; Dorfbewohner und ehemalige Dienstboten, wie sie in Eduard Ernes und Margareta Heinrichs Film „Totschweigen“ aussagen (und Wesentliches wie die Grabstelle ver- bzw. totschweigen); antike Boten, die aus den „Bakchien“ entsprungen sein könnten... In Leonhard Koppelmanns Inszenierung steht eine Botin stellvertretend für alle. Eine Zofe ohne Herrin? Die Herrin als Zofe?

Seit der Premiere 2009 führt Isabelle Menke das Publikum mit ihrer Spurensuche an zahlreiche Orte in und um Zürich, gastierte in Berlin, Prag, Dresden, Linz, Aarau, zuletzt, bei der Neuauflage 2022, in Stade, Kobersdorf und Oberwart -  zum ersten Mal wurde Jelineks Stück im Burgenland unweit von Rechnitz aufgeführt, was dem Österreichischen Fernsehen einen schönen Beitrag wert war. In der Saison 2022/23 zeigt Menke das Stück an ihrer neuen Wirkungsstätte, den Bühnen Bern, und wirbt dafür mit einem Stand-Up-Monolog.


Rechnitz (Der Würgeengel)

von Elfriede Jelinek

Weiterspielen-Neuproduktion der Fassung für das Schauspielhaus Zürich


Mit Isabelle Menke


Regie Leonhard Koppelmann

Bühne Nadia Schrader

Kostüme Agnes Raganowicz

Dramaturgie Roland Koberg


Aufführungsdauer ca. 2 Stunden


Aufführungsrechte Rowohlt Theater Verlag, Reinbek


Alle Fotos © Toni Suter / t+t Fotografie


Dank an Eduard Erne für die Überlassung des Filmmaterials von „Totschweigen“ zur weiteren Verwendung.


Premiere (Schweizerische Erstaufführung) am 19. Dezember 2009 im Pfauen (mehr als dreißig wechselnde Außenspielstätten)

Gastspiele am Deutschen Theater Berlin (Schweizerische Botschaft), Theaterfestival deutscher Sprache Prag (Rudolfinum), Posthof Linz (Tabakfabrik), Staatstheater Dresden (ehem. Großschmiedewerk), Tuchlaube Aarau (Reithalle), Stadeum (Staatsarchiv), Kobersdorf (Schloss und Synagoge), Oberwart (OHO), Bühnen Bern (Vidmarhallen), Monodrama Festival Luxemburg (Banannefabrik)


Mitwirkende der Originalproduktion (Schauspielhaus Zürich 2009/10): Regieassistenz David Koch Mitarbeit Dramaturgie / Soufflage Andrea Salzmann Produktionsleitung Johanna Grilj Technische Leitung Paul Lehner

Technische Einrichtung Beat Fluck Beleuchtung Sascha Haenscke Ton und Video Holger Wendt, Andi A. Müller Technischer Direktor Dirk Wauschkuhn Produktionsleiter Paul Lehner Technische Assistenz Jens Lorenzen Mitarbeit Technische Direktion Bettina Rizzi Leitung Bühnentechnik Ralf Kranzmann, Angelo Rosenfelder Leiter Beleuchtung Rainer Küng Leiter Ton- und Videotechnik Jens Zimmer Leiter Maskenbildnerei Erich Müller Leiterin Damenschneiderei und Ankleidedienst Katharina Schmid Leiterin Herrenschneiderei Anita Lang Leiter Requisite René Kümpel Leiter Malsaal Thomas Unseld Leiter Schreinerei Ivano Tiziani Leiter Schlosserei Guido Brunner Leiter Tapeziererei Michel Jenny


AUS MITSCHNITTEN DER PREMIERE AM SCHAUSPIELHAUS ZÜRICH:

Interview mit der Autorin

Elfriede Jelinek im Gespräch mit dem Dramaturgen Roland Koberg


Ausgangspunkt Ihres Stücks „Rechnitz (Der Würgeengel)“ ist ein Nazi-Massaker an 180 jüdischen Zwangsarbeiten in den letzten Kriegstagen 1945. Was gab den Anstoss, dieses Stück jetzt zu schreiben? War es der umstrittene Artikel über die Tatbeteiligung der Rechnitzer Schlossherrin Margit von Thyssen-Batthyany, den David Litchfield im Herbst 2007 erst im „Independent“ und später, in abgeschwächter Form, in der „F.A.Z.“ veröffentlichte?


Die Sache war schon vorher bekannt. Ich hatte durch den Film „Totschweigen“ von Eduard Erne und Margareta Heinrich davon erfahren. Diesen Film hatte ich in meinem Stück „Stecken, Stab und Stangl“ bereits benützt und sozusagen im Hinterkopf gespeichert. (Dieses Stück über den politisch motivierten Mord an vier Roma im burgenländischen Oberwart wurde 1996 uraufgeführt, Anm.) Danach war das Thema für mich erledigt, bis zum Erscheinen von Litchfields Biographie der Familie Thyssen, aus der sich sein Zeitungsartikel speist. Dieses Buch, in dem Rechnitz nur ein kurzes Kapitel darstellt, ist ja eine „Oral History“, Litchfield hat im Grunde das niedergeschrieben, was ihm der Baron Heinrich von Thyssen (Margits Bruder, Anm.) erzählt hat. Litchfield ist im Grunde ein Klatschreporter, und man versteht sofort, dass der Baron lieber mit so jemandem sprach als mit einem Historiker. Deswegen ist dieses Buch ein so wichtiges Dokument, es hat für mich eine andere Art von Wahrheit als eine historische Wahrheit, nämlich die Wahrheit des kolloquialen Redens. Diese Leute haben es nicht nötig, mit Wissenschaftlern zu reden, aber sie saufen gerne mal mit Gesellschaftsreportern. Und da kommen die Dinge dann heraus.


Das heisst, das Saloppe bei Litchfield war für Sie als Dichterin von Vorteil?


Ja, ich schätze das Hörensagen eben ausserordentlich, genauso wie Klatsch und Tratsch. Diese Art der Schilderung regt meine Phantasie an. Als der Artikel erschien, traf das bei mir einen Nerv, der schon blossgelegt war.


Es ist nicht das erst Mal, dass Sie im Holocaust begangene Verbrechen zum Thema ihrer Literatur machen, auch der Internet-Roman „Neid“ bezieht sich auf ein Massaker in den Alpen, das im Zuge der so genannten Todesmärsche verübt wurde.


Das Massaker in Rechnitz war für sich genommen kein so aussergewöhnliches Ereignis, es gab diese Art der Verfolgung vor und auch nach Kriegsende, ob das in Österreich die „Mühlviertler Hasenjagd“ war oder die Massenerschiessung in Präbichl bei Eisenerz, die in „Neid“ eines der Themen ist. Auch in der Nähe von Rechnitz, in Deutsch-Schützen, ist genau dasselbe passiert – der heute 85jähriger Täter wurde erst kürzlich gefunden, sein Name stand im deutschen Telefonbuch. 


Litchfield glaubt an eine direkte Tatbeteiligung Margit von Batthyanys …


Die ist zwar nicht nachzuweisen, aber, wie ich finde, äusserst wahrscheinlich. Sie war die Gastgeberin dieses „Gefolgschaftsfests“ (dieses Fest verliessen einige Gäste vorübergehend, um die Erschiessungen vorzunehmen, Anm.), die Gräfin wusste, wo der Schrank mit den Gewehren steht, und sie stand in einem intimen Verhältnis zu den zwei SS-Männern Oldenburg und Podezin. Dass sie nichts gewusst hat, kann ich mir nicht vorstellen. Obwohl ich wiederum nicht glaube, dass sie selber geschossen hat.


Ohne selbst in Rechnitz gewesen zu sein, haben Sie für Ihr Stück doch viel recherchiert, fast wie eine Detektivin. Auch der brisanten Frage, warum die Opfer von Rechnitz, die sich ihr eigenes Grab schaufeln mussten, bis heute unauffindbar sind, wird im Text nachgegangen. Es ist von einer „Kiesgrubentheorie“ die Rede…


Diese Theorie stammt, wie ich sagen muss, von meinem technisch versierteren Mann. Denn es wurden die Gräber ja schon einmal von den Russen ausgegraben und danach wieder zugeschüttet. Es könnte also zum Beispiel sein, dass in der Nacht, als die Gräber geöffnet wurden, die Leichen mit Baufahrzeugen ausgegraben und in Kiesgruben verscharrt wurden, dann würde man sie nicht mehr finden. Der ehemalige Gauleiter und Blutordensträger Tobias Portschy, der so etwas wie der Dämon des Burgenlands war und der auch die Bauwirtschaft bis zu seinem Ableben fest im Griff hatte, könnte das veranlasst haben. Wären die Leichen nicht weggeschafft worden, so müsste man die Gräber mittels Radaraufnahmen aus der Luft, die Hohlräume erkennen lassen, eigentlich finden.


Besteht noch eine Chance?


Die Wahrscheinlichkeit schätze ich auf 50:50. Allerdings habe ich nicht den Eindruck, dass an diesem Ort ein grosser Bedarf nach Aufklärung vorhanden ist. Die Batthyanys gelten in Rechnitz ja als grosse Wohltäter, auch nachdem die Gräfin längst in der Schweiz lebte. Ihr Schloss gibt es zwar nicht mehr, aber dafür ein Jagdhaus. Wenn man beim Fenster hinein schaut, sieht man übrigens, wie mir berichtet wurde, Trophäen, die die Gräfin von Jagdausflügen in Südafrika mitgebracht haben muss – offenbar hat sie den dorthin geflüchteten Täter Franz Podezin getroffen.


Es gibt kaum (noch) Schriftsteller Ihrer Generation, die sich mit dem Holocaust literarisch auseinandersetzen …


Heute interessiert das wahrscheinlich niemanden mehr und es ist mehr ein Thema für Feierstunden und Gedenktage, wobei ja 2009 der Tag der Reichspogromnacht grotesk überlagert wurde von der Euphorie über 20 Jahre Wiedervereinigung …


Und warum interessiert es Sie als Schriftstellerin?


Das ist bei mir schon eine Besessenheit, mich immer wieder damit zu beschäftigen. Mit „Rechnitz“ könnte das zu Ende sein, aber ich würde es nicht beschwören. Ein Antrieb ist, dass in Österreich die Unschuldigkeit zum Dogma erhoben worden ist. Am Anfang hat man einige aufgehängt, aber schon ein paar Jahre später wurden bei Nazi-Prozessen jüdische Zeugen lächerlich gemacht und bald sassen die übelsten Kreaturen für die FPÖ im Parlament. Einer der schlimmsten Nazi-Verbrecher, Alois Brunner, scheint in Syrien, wohin er sich absetzte, lange ganz offiziell aufgetreten zu sein. Das hat es in keinem anderen Land gegeben, das ist unsere Erbsünde und wir werden das nicht los. Jetzt, wo alles zu spät ist, werden plötzlich irgendwelche Ergreifungsprämien ausgesetzt, das ist dermassen erbärmlich. Die Österreicher sind immer davon gekommen.


Eine persönliche Frage: Ihr Vater wurde von den Nazis als „Halbjude“ eingestuft und konnte sich retten, weil er als Chemiker bei der Reifenherstellung gebraucht wurde. Wie sehr trägt seine Geschichte zu Ihrer „Besessenheit“ bei?


Sie ist ein Stachel in meinem Fleisch. Mein Vater war gewissermassen ein indirektes Opfer, und wäre er nicht in der Kriegsindustrie benötigt worden, dann wäre er irgendwann auch zum Südostwallbau gekommen. Es ist bei mir schon immer der Wunsch da, meinen Vater zu retten. Das ist das Innerste, was mich umtreibt.


Sie haben einmal erzählt, Ihr Vater habe Sie schon als kleines Mädchen in Aufklärungsfilme mitgenommen, die bald nach dem Krieg gezeigt wurden?


Ja, ich musste mir all diese Dokumentarfilme anschauen. Er wollte, dass ich das alles sehe, das war für ihn Pflicht. Die Bilder aus den KZs haben bei mir Entsetzen und Alpträume ausgelöst. 


In „Rechnitz“ zitieren Sie auch Hans Magnus Enzensberger, der von einer „Hypnotisiertheit von dieser Zeit“ gesprochen hat. Dahinter steckt immer wieder und immer öfter die Frage: Wie lange muss man sich mit diesen Geschehnissen noch befassen?


Die Geschehnisse haben ihre eigene Gesetzlichkeit. Es liegt nicht in unserer Hand, es zu vergessen oder zu sagen, nächstes Jahr hören wir damit auf. Ich glaube, die Geschichte kommt immer wieder aus dem Boden. Sie lässt uns nicht vergessen. Die Rede von Martin Walser in Frankfurter Paulskirche, als er von der „Faschismuskeule“ sprach, hielt ich für völlig überflüssig. Der Holocaust wird, als der grösste Zivilisationsbruch der Geschichte, uns noch sehr lange beschäftigen. Dieser Schrecken ist, mit dem Gulag zusammen, wie ein kollektives Atemanhalten der Menschheit. Und niemand kann da sagen: jetzt ist es aus. Natürlich gehen mir diese ritualisierten Gedenkfeiern auch auf die Nerven. Aber dass man es macht, weil man denkt, man kommt nicht darum herum, das kommt aus der Sache selbst.


Dennoch stellen Sie die Frage, ob wir heute über eine andere „kognitive Distanz“ zu dieser Zeit verfügen, auch im Stück.


Ja, ich wollte meine Position schon auch selber in Frage stellen. Vielleicht auch, um mich nicht selber gleich wieder diesen Vorwürfen auszusetzen, dass da schon wieder ein linker Gutmensch dieses Thema aufwärmt.


Wie kann man sich heute mit dem Holocaust literarisch beschäftigen, ohne ständig offene Türen einzurennen?


Man muss eine Form dafür finden. Und die Form ist in „Rechnitz“ eine endlose Litanei aus riesigen Monologblöcken, wie ich jetzt beim Wiederlesen gemerkt habe. Wie ich die Sachen um- und umdrehe, das hat schon etwas Zwanghaftes, irgendwer hat mal geschrieben: Schwallhaftes. Ich denke, die Grösse der Aufgabe besteht nicht so sehr im Gegenstand als darin, ihn formal und ästhetisch zu fassen. Wenn ich keine ästhetische Methode finden würde, auf eine zeitgemässe Weise darüber zu sprechen, dann würde ich das nicht machen. Ich muss auch auf die Kalauer bestehen. Ich drehe die Wörter um und nochmals um, weil die Sprache noch am ehesten die Wahrheit über sich selbst sagt. Es muss auch alles immer diese ironische Leichtigkeit haben und man muss imstande sein, die grauenhaftesten Dinge zehn Zentimeter anzuheben. Das ist die eigentliche literarische Herausforderung.


Das Massaker von Rechnitz ist nicht das einzige Verbrechen, das in Ihrem Stück eine Rolle spielt. Auch der „Kannibale von Rotenburg“, der vor ein paar Jahren einen Mann verspeist hat, den er im Chat kennengelernt hatte, klingt im Stück durch.


Ja, Mord ist für mich das interessanteste. Es gibt von mir keinen Text, der nicht mit einem Kriminalfall zu tun hat. Überall sind, sozusagen wie Ostereier, wahre Kriminalfälle versteckt.


Ein anderes Ei haben Sie mit Verweisen auf die „Bakchen“ gelegt, wo eine dem Wahn verfallene Frau ihren Sohn verspeist …


Ich kann die Zusammenhänge nicht so genau erklären. Ich verwende ja immer Fremdtexte, wie ein Boot, das einen Wasserskifahrer aufrichtet und hinter sich herzieht. Aber natürlich war bei einer Orgie wie der auf Schloss Rechnitz das Bacchantische nahe liegend. Und die griechische Tragödie schätze ich besonders, weil sie eine alte Sprache spricht und aus einer Gesellschaft kommt, die wir nicht verstehen. Das steht dann wie etwas Unerklärliches da – wie auch der Massenmord und das Grab, das nie gefunden wird. Und was in der antiken Tragödie noch im Symbolischen abgearbeitet wird, endet dann beim realen Menschenfressertum. Der Kannibale ist schliesslich der, der aus Lust tötet, einfach um sich das Fleisch eines anderen einzuverleiben. Im Grunde sind das alles Formen eines Menschenfressertums.


Sie haben auch T. S. Eliots düsteres, apokalyptisches Gedicht „The Hollow Men“ einfliessen lassen. War die Idee, ähnlich wie Sie das bei früheren Stücken mit Gedichten von Paul Celan gemacht haben, einem reinen Ausdruck von Schmerz Raum zu verschaffen?


Ja. Es gibt ja ganz viele Interpretationen, wer mit den „Hollow men“ gemeint ist, für mich sind es die hungernden Skelette, die ausgemergelten hohlen Männer, ich habe dafür absichtlich eine Interlinearübersetzung aus dem Netz genommen, die völlig sinnlos und absurd ist. Wenn mir die Worte fehlen, ziehe ich eine Zwischendecke aus anderen Worten ein, diese Funktion hat auch Eliot. Mit dieser hohen Sprache des Gedichts, das eigentlich ganz etwas anderes sagt, reisse ich mich selbst in die Höhe, weil alles, was ich hätte sagen können, kitschig gewesen wäre. Selbst wenn es mir gelungen wäre, ein Gedicht zu schreiben, das das fassen könnte, würde es nicht stimmen. Dieses Gedicht ist wie ein kleines Hindernis für denjenigen, der auf den Wasserskiern draufsteht, da muss man drüber.


Die Frage klingt vielleicht naiv, aber: An wen richtet sich das Stück?


Ein gute Frage, aber ich weiss es nicht. Es ist meine eigene Besessenheit und da denke ich nicht dran, wen das jetzt noch interessiert.


Als „Nachfahren“ jedweder Herkunft sind wir alle Boten. Impliziert das Stück den Auftrag, zu berichten?


Interessante Idee, darauf bin ich noch nicht gekommen. Es ist ja ein Thema, bei dem die meisten sagen: Nicht schon wieder! Das sagen die Leute ja schon bei Natascha Kampusch, obwohl es gerade mal zwei Jahre her ist, dass sie aus ihrem Verlies aufgetaucht ist. Sie selbst sagt eh längst nichts mehr, aber die Leute sagen, was macht die sich wichtig, wir wollen das nicht mehr hören. Es gibt diesen Scheinüberdruss einer überdrüssigen Gesellschaft, die sich vom immer Gleichen zumüllen lässt, bis es ihr zu viel wird. Mein Impetus ist eine grosse Wut darüber, dass man bestimmte Dinge so leicht weg drücken kann. Da sage ich mir: Jetzt sag ich’s euch aber noch mal rein.


Das merkt man als Leser oder Zuschauer von „Rechnitz“ auch daran, dass das Stück fast racheengelhafte Züge trägt. Es wirkt wie der Versuch, auf einer höheren künstlerischen Ebene eine Gerechtigkeit herzustellen, die es in Wirklichkeit nicht gab.


Ja, genau das ist es. Und es entspringt auch wirklich meinem Hass auf Österreich, den ich einfach habe, angefangen bei dieser unglaublichen Verlogenheitsbehauptung, selbst von Linken, die sagen: Aber es war schon eine Annexion… Natürlich war es das, aber mit welcher Begeisterung hat man sich annektieren lassen! Das ist das Entscheidende.


Unsere Aufführung findet in der Schweiz statt, die in Ihrem Stück eine wichtige Nebenrolle spielt. Wie ordnen Sie diese Rolle im Zusammenhang mit den Ereignissen von Rechnitz ein?


Baron Heinrich von Thyssen und seine Familie haben ja immer alles abgeblockt, indem sie gesagt haben: Wir sind ja keine deutschen Staatsbürger, sondern haben die ungarische Staatsbürgerschaft und leben in der Schweiz. Ihre Geschäfte mit den Nazis haben sie aber über Strohmänner immer betrieben und sind in St. Moritz Ski gefahren, während auf der anderen Seite der Grenze die Leute krepiert sind. Und als die Gräfin aus Rechnitz geflohen ist, ging es nach Lugano zu ihrem Bruder, wobei man sich vom Personal auf einem Traktor bis an die Grenze begleiten liess. Aus der Schweiz kommt es und in die Schweiz geht es wieder.


Die Schweiz als Refugium für alle, die es sich zu richten wussten?


Die Schweiz war schon einerseits ein Hafen, ein kleines Land, das viele gerettet hat; viele nicht, aber viele andere schon. Auch Teile meiner Familie sind über die Schweiz hinausgekommen und konnten von da nach England emigrieren. Einer ist mit 40 Grad Fieber über die grüne Grenze und sie haben ihn reingelassen. Sie mussten zwar arbeiten, aber sie waren nicht in ihrem Leben bedroht. Andererseits ist die Schweiz eine einzige gigantische Ausrede. Letztlich halt auch ein Land der Unschuldigen. Immer neutral gewesen, immer auf der richtigen Seite, immer die Goldlieferungen angenommen, auch wenn es Zahngold war. Ohne die Schweiz hätten die Nazis ihren Krieg nicht finanzieren können. Aber dieses Stück müssen die Schweizer selber schreiben. Autoren gibt es ja.


Das Interview mit Elfriede Jelinek fand am 12. November 2009 in München statt.


Pressestimmen

Angekommen in einem Industriegebäude mit Kachelwänden, Parkettboden, Klappstühlen (Raum Nadia Schrader), empfängt uns die „Gräfin“ als VIP-Flüchtling, der sich nach und nach aus der Verkleidung (Kostüme Agnes Raganowicz) schält. Hut, Mantel, Frackjacke, Krinoline, Unterrock, Hose — schliesslich steht Isabelle Menke, die grossen Augen dunkel geschminkt, im scharlachroten Abendkleid da. Von verruchten Partyzeiten mit Gleichgesinnten, welche „getrunken haben, was die Wimper hält“ kündet ihre Erscheinung. Das „schwere historische Gepäck“ lagert in einem Holzcontainer. Eineinhalb Stunden lang rekapituliert die Schauspielerin, ohne eine wirkliche „Figur“ in einer „Geschichte“ zu spielen — das gibt es bei Jelinek nie —, Taten und Untaten von anno dazumal, assistiert lediglich von Ton-Recordern. Eine Parforcetour.

NZZ


Selten hat man einen Ein-Frau-Abend gesehen, der so schillernd und differenziert ausgearbeitet war wie dieser von Isabelle Menke und dem deutschen Regisseur Leonhard Koppelmann.

Tages-Anzeiger


Sie häutet sich wie eine Zwiebel, während sie das Publikum komplizenhaft umgarnt, brillant kalauernd gefangen nimmt, diabolisch, ordinär, irr, grössenwahnsinnig, dann aber wieder ganz nüchtern und selbstverständlich einbezieht in den unbegreiflichen Schrecken, der sich in Rechnitz abgespielt und in der Schweiz überspielt worden ist. Schliesslich steht die grossartige Menke im leuchtend roten Abendkleid und mit gediegener Feder vor uns wie die Gräfin herself, ganz grande dame, die das Erschiessen Wehrloser unglaublich zynisch mit einer Handbewegung als Nichtigkeit abtut. Was wollt ihr eigentlich? Die Gruben waren ja gar nicht so tief, kein Problem, da rein zu fallen.

sda

Kurzbiografien

Isabelle Menke, 1966 in Bremen geboren, absolvierte ihre Schauspielausbildung am Mozarteum in Salzburg. Danach arbeitete sie in freien Projekten und hatte Engagements in Wilhelmshaven und Lübeck. Von 1993 bis 1999 war sie festes Ensemblemitglied am Theater Neumarkt in Zürich, danach spielte sie am Theater Basel, am Schauspielhaus Zürich und als Ensemblemitglied am Schauspiel Hannover. 2007 wechselte sie erneut ans Theater Basel. Wichtige Regisseur*innen der letzten Jahre waren Stefan Bachmann, Christoph Marthaler, Barbara Frey, Sebastian Nübling, Elias Perrig und Florentine Klepper. Vielfach wirkte sie in musiktheatralischen Projekten mit, etwa bei Ruedi Häusermann. Als Darstellerin im Hörtheater Fama von Beat Furrer wurde sie mit dem goldenen Bären der Musikbiennale Venedig ausgezeichnet. Von 2009 bis 2019 war Isabelle Menke Ensemblemitglied am Schauspielhaus Zürich, wo sie in zahlreichen Inszenierungen auf der Bühne stand, u.a. in Stefan Puchers Inszenierung Ein Volksfeind (eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2016 und zum 3. Schweizer Theatertreffen), in BEUTE FRAUEN KRIEG (R: Karin Henkel) sowie in Am Königsweg (R: Stefan Pucher). Seit der Spielzeit 2021/22 ist sie Ensemblemitglied am Theater Bern.


Leonhard Koppelmann ist 1970 in Aachen geboren und in Köln aufgewachsen. 1991 begann er als Autor für den Hörfunk zu arbeiten, bald darauf folgten erste Regiearbeiten. Von 1991 bis 1995 studierte er Theaterregie an der Universität Hamburg. Seither arbeitet er als Theater- und Hörspielregisseur. Bis dato inszenierte er weit über zweihundert Hörspiele, zuletzt Gustave Flaubert Lehrjahre der Männlichkeit, Christopher Isherwood Leb wohl, Berlin, John Dos Passos Manhattan Transfer, Michel Houellebecqs Unterwerfung und Tonio Kröger von Thomas Mann. Als Theaterregisseur arbeitet er seit einigen Jahren eng mit Peter Jordan zusammen. Das Regieduo inszenierte zuletzt am Burgtheater Wien, am Thalia Theater Hamburg sowie am Düsseldorfer Schauspielhaus und am Staatstheater Mainz. Im Jahr 2017 wurde Leonhard Koppelmann als Mitglied in die „Deutsche Akademie der darstellenden Künste“ berufen.


Elfriede Jelinek wird am 20. Oktober 1946 im steirischen Mürzzuschlag geboren, ihre Kindheit verbringt sie in Wien. 1960 beginnt sie eine Ausbildung zur Organistin (1971 abgeschlossen). Ein Studium der Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte an der Universität Wien gibt sie nach sechs Semestern krankheitsbedingt auf. Ihre schriftstellerische Laufbahn beginnt mit Gedichten und Prosatexten, für beides wird sie 1969 bei der Österreichischen Jugendkulturwoche in Innsbruck ausgezeichnet. 1970 erscheint im Rowohlt Verlag ihr Romandebüt „wir sind lockvögel baby!“, dem weitere Prosa-Werke im selben Verlag folgen: „Michael. Ein Jugendbuch für die Infantilgesellschaft“ (1972), „Die Liebhaberinnen“ (1974), „Die Ausgesperrten“ (1980), „Die Klavierspielerin“ (1983), „Oh Wildnis, oh Schutz vor ihr“ (1985), „Lust“ (1989), „Die Kinder der Toten“ (1995) und „Gier“ (2000).

Seit 1979 tritt Elfriede Jelinek auch als Dramatikerin in Erscheinung. Theaterstücke (Auswahl): „Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte“, „Burgtheater“, „Krankheit oder Moderne Frauen“, „Wolken.Heim.“, „Totenauberg“, „Wolken.Heim.“, „Raststätte oder Sie machens alle“, „Stecken, Stab und Stangl“, „Ein Sportstück“, „Das Lebewohl“, „Macht nichts“, „In den Alpen“, Prinzessinnendramen I–V“, „Das Werk“, „Bambiland“, „Babel“, „Über Tiere“, „Rechnitz (Der Würgeengel)“, „Die Kontrakte des Kaufmanns“.

2004 wird Elfriede Jelinek mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet, davor hat sie bereits den Georg-Büchner-Preis und viele andere bedeutende Auszeichnungen erhalten. „Rechnitz (Der Würgeengel)“ wird 2009 von der deutschsprachigen Theaterkritik zum „Stück des Jahres“ gewählt und mit dem Mülheimer Dramatikerpreis ausgezeichnet.


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